Aktualisiert am 21. Oktober 2025
Europa will in der Digitalisierung aufholen. Mit der neuen AI First Strategie startet die EU-Kommission eine Initiative, um im globalen Wettbewerb um Künstliche Intelligenz nicht länger hinter den USA und China zurückzubleiben. Rund eine Milliarde Euro sollen aus bestehenden Förderprogrammen umgeschichtet werden, um KI-Lösungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung schneller nutzbar zu machen. Kernidee: Künstliche Intelligenz soll künftig standardmäßig in allen strategischen Entscheidungen mitgedacht werden. Von der Energie- und Gesundheitsbranche bis hin zur Bauwirtschaft. Wie sich dieser Wandel konkret in der Bauwirtschaft zeigt, habe ich im Beitrag Digitalisierung der Bauwirtschaft – 5 Gründe, die den Wandel prägen erläutert.
Was steckt hinter der EU-AI First-Strategie?
Die EU will mit AI First gleich mehrere Ziele verbinden: technologische Souveränität, Open-Source-Förderung, Sicherheit und Innovation. Damit soll scheinbar auch ein Mindset-Wechsel stattfinden in dem KI beim AI First Ansatz als Grundprinzip der digitalen Transformation etabliert werden soll.
Nun, so weit, so richtig. Doch bei genauerem Hinsehen frage ich mich: Kommt diese Strategie nicht zu spät und kommt sie nicht auch mit Widersprüchen? Zumindest geben mir die bisherigen Veröffentlichungen der EU noch nicht ausreichend Antworten.
Was ich mich dabei besonders frage ist, ob die Umsetzung der AI First Strategie womöglich an der eigenen Bürokratie zu scheitern droht. Denn der AI Act, eigentlich von der EU als Qualitäts- und Sicherheitsrahmen gedacht, bleibt komplex und schwerfällig mit Begriffen, die Interpretationsspielräume lassen, und Anforderungen, die Start-ups oder KMU eher abschrecken als ermutigen. Solche und ähnliche Aspekte habe ich bereits im Beitrag 15 Auswirkungen der EU KI-Verordnung auf die Bau- und Immobilienwirtschaft adressiert. Welche Risiken entstehen, wenn Regulierung Innovation hemmt oder als Etikett missbraucht wird (KI-Washing), thematisiere ich ausführlich im Beitrag KI-Washing: 10 Tipps wie Sie echte Innovationssprünge erkennen. Bremst der EU AI Act womöglich auch die neue AI First Strategie? Denn während Europa KI reguliert hat, haben andere leistungsfähige KI-Ökosysteme aufgebaut.
Finanzierung der EU-KI-Strategie: Woher kommt das Geld wirklich?
Die angekündigte Summe von einer Milliarde Euro (siehe Reuters) klingt beeindruckend doch sie stammt aus bestehenden Programmen wie Horizon Europe oder Digital Europe (siehe Europäische Kommission). Die zentrale Frage die ich mir dabei stelle ist:
Welche Initiativen werden konkret gekürzt, um die AI First-Strategie der EU zu finanzieren?
Als jemand, der regelmäßig für verschiedene Agenturen der Europäischen Kommission als Gutachter und Berater tätig ist, mache ich mir schon Sorgen, dass womöglich Initiativen und Programme, die bereits Wirkung zeigen oder auch noch Zeit brauchen zu wirken zugunsten der neuen AI First Strategie eingekürzt oder zumindest on hold gestellt werden. Müssen wir künftig auf Nachhaltigkeits-Projekte im „New European Bauhaus” verzichten, um Innovation nachzuholen? Ohne Transparenz über die tatsächliche Mittelherkunft kommt schnell die Vermutung, dass man den Rückstand mit Geld kompensieren will, dass eigentlich bereits für andere wichtige Aktivitäten eingeplant war. Wie eng Digitalisierung und Nachhaltigkeit bereits heute zusammenhängen, zeigt der Beitrag BIM Grundlagen & Trends, in dem Green-BIM und Nachhaltigkeit zentrale Themen sind.
Bauwirtschaft im Fokus der KI-Transformation
Gerade die Bau- und Immobilienwirtschaft steht exemplarisch für Europas Dilemma:
Sie bietet riesige Potenziale, beispielsweise von BIM-Integration über automatisierte Planung und Material-Tracking bis hin zu Exoskeletten auf der Baustelle. Wie KI und Robotik den Baustellenalltag bereits verändern, bespreche ich im Interview Im Dialog: Arnim Spengler über BIM, KI und Robotik im Bauwesen. Gleichzeitig gilt die Baubranche trotz allem als eine der konservativsten Branchen Europas.
Hier ist AI First allein nicht genug. Es braucht Querschnittsstrategien, die KI mit Bildung, Nachhaltigkeit und Digitalisierung verbinden. Nur so kann KI als Werkzeug dienen, um Bauprozesse effizienter, sicherer und klimafreundlicher zu gestalten.
Vier Säulen für ein echtes „AI First” in Europa
Eine echte AI First-Strategie braucht mehr als Schlagworte und Budgetversprechen. Eine solche Strategie verlangt nach einem klaren Fundament und einem Zusammenspiel aus Kompetenz, Offenheit, Anpassungsfähigkeit und Praxistauglichkeit. Denn nur wenn Technologie, Bildung und Umsetzung in Balance stehen, kann Künstliche Intelligenz zum echten Treiber der digitalen Transformation werden. Und das sowohl in Europa als auch insbesondere in der Bauwirtschaft.
Es geht nicht darum, KI um ihrer selbst willen einzusetzen, sondern darum, sie in bestehende Systeme, Prozesse und vor allem Werte einzubetten. Aus dem Grund darf AI First kein technokratisches Konzept bleiben, sondern muss zu einer europäischen Haltung werden: lernend, offen, menschenzentriert und handlungsfähig. Im Kern braucht es dafür meiner Ansicht nach vier entscheidende Bausteine.
Kompetenz statt Komplexität
KI-Strategien dürfen nicht nur technologische Exzellenz betonen, sondern müssen Menschen befähigen, KI zu verstehen, kritisch zu hinterfragen und kreativ einzusetzen. Ohne gezielte Bildung, Qualifizierung und Upskilling-Programme bleibt AI First ein leeres Schlagwort.
AI First beginnt beim Menschen, nicht beim Algorithmus.
Wie Weiterbildung gezielt umgesetzt werden kann, zeige ich am Beispiel BIM-Weiterbildung im kommunalen Umfeld. Europa braucht eine bindende Budgetquote für Bildung, Forschung und Weiterbildung im Rahmen der Strategie. Nur so entsteht eine Kultur des Lernens, in der Wissen, Verantwortung und Innovation Hand in Hand gehen.
Open Source als Hebel
Positiv ist, dass die EU den Wert von Open-Source-KI und eines „Buy European”-Prinzips im öffentlichen Sektor erkannt hat. Das ist mehr als eine wirtschaftspolitische Entscheidung, es ist ein Schritt hin zu digitaler Souveränität. Offene Systeme senken nicht nur Kosten und verhindern Abhängigkeiten, sie fördern auch Transparenz, Vertrauen und gemeinsames Lernen. Die Schweiz macht es gerade mit Apertus vor. Mehr dazu im Beitrag Apertus Open-Source-KI: Wie die Schweiz Transparenz & Datenschutz definiert. Europa sollte diesen offenen Weg konsequent weitergehen, Standards definieren und offene Plattformen schaffen, auf denen Forschung, Wirtschaft und Verwaltung zusammenarbeiten können und das ohne Schranken, aber mit klaren Werten.
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WeiterlesenAntizipative Governance
Regulierung darf Innovation nicht ausbremsen, sondern muss sie begleiten. Statt alle paar Jahre starre Regelwerke zu überarbeiten, braucht Europa lernende Regulierungssysteme, die sich mitentwickeln. Regulatory Sandboxes, Sunset-Reviews und iterative Leitlinien könnten den Rahmen bilden, in dem sich neue Technologien sicher, aber flexibel entfalten können.
Diese drei Instrumente, Regulatory Sandboxes, Sunset-Reviews und iterative Leitlinien, können gemeinsam das Rückgrat einer antizipativen, lernfähigen Regulierungskultur bilden, wenn Europa mit seiner AI First-Strategie nicht nur reagieren, sondern proaktiv gestalten will. So würde aus der viel beschworenen europäischen Bürokratie ein Labor für verantwortungsvolle Innovation. Eben ein Ort, an dem Regulierung und Fortschritt sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig stärken.
Erklärbox: Adaptive Regulierung in der EU
Regulatory Sandboxes
Regulatory Sandboxes („regulatorische Testumgebungen”) sind geschützte Experimentierräume, in denen neue Technologien oder Geschäftsmodelle unter Aufsicht, aber mit reduzierten Regulierungsauflagen getestet werden können. Sie ermöglichen es Unternehmen und Behörden, Innovationen in der Praxis zu erproben, ohne sofort alle gesetzlichen Anforderungen erfüllen zu müssen. Das ist ein Ansatz, der vor allem in der FinTech-Politik zunehmend Anwendung findet.
Sunset-Reviews
Ein Sunset-Review ist eine zeitlich begrenzte Regulierung mit Überprüfungspflicht. Gesetze oder Richtlinien treten automatisch außer Kraft, wenn sie nicht nach einer festgelegten Zeit überprüft und verlängert werden. So wird verhindert, dass veraltete Regeln Innovationen bremsen, und gleichzeitig gefördert, dass politische Maßnahmen regelmäßig an neue technologische Entwicklungen angepasst werden.
Iterative Leitlinien
Iterative Leitlinien sind dynamische, lernende Regelwerke, die schrittweise weiterentwickelt werden. Statt starre Vorgaben zu machen, erlauben sie es Regulierungsbehörden und Unternehmen, aus praktischen Erfahrungen zu lernen und diese Erkenntnisse in die nächste Version der Leitlinie einfließen zu lassen. Dieser Ansatz steht für agile Governance, d.h. eine Verwaltung, die mit der Technologie mitlernt statt hinterherzulaufen.
KMU-Fokus
Kleine und mittlere Unternehmen sind das Rückgrat Europas – auch in der Bauwirtschaft. Doch gerade sie geraten in Gefahr, bei großen Strategien übersehen zu werden. Was sie brauchen, sind vereinfachte Zugänge zu Rechen- und Testinfrastrukturen, praxisnahe Beratung und Fördermodelle, die Innovation tatsächlich ermöglichen, statt sie durch Antragsbürokratie zu ersticken. Wenn die EU es ernst meint mit „AI First”, dann darf sie die Akteure, die den größten Teil der europäischen Wertschöpfung tragen, nicht zu Zuschauern einer digitalen Revolution machen.
Warum „Human First” der entscheidende Schlüssel ist
Der Slogan AI First klingt kraftvoll, fast werbewirksam, doch er stellt meiner Ansicht nach nicht den wichtigsten Faktor heraus: Uns Menschen. Was Europa wirklich braucht, ist nicht nur AI First, sondern Human First.
Denn nur, wenn Bürgerinnen und Bürger, Studierende, Forschende und Fachkräfte verstehen, wie KI funktioniert, welche Chancen sie bietet und wo ihre Grenzen liegen, entsteht echte Transformation. Zuerst mental und intellektuell, dann wirtschaftlich.
Welche Kompetenzen (Future Skills) dafür notwendig sind, erkläre ich im Beitrag Future Skills im Bauwesen. Bildung ist und bleibt die Voraussetzung dafür, dass KI nicht zum Selbstzweck wird, sondern zu einem Werkzeug für gesellschaftlichen Fortschritt und Nachhaltigkeit. Mensch und Maschine müssen sich co-evolutionär entwickeln, um volles Potential entfalten zu können.
Europa hat die Technologie und die Köpfe. Was es jetzt braucht ist Mut, Bildung und Konsequenz.
Und nun?
Die neue EU KI-Strategie ist ein überfälliger und auch notwendiger Schritt. Keine Frage! Und ob es hätte früher geschehen sollen sei dahingestellt. Was zählt sind die Umsetzungsergebnisse dieser Strategie. Denn die AI First Strategie wird nur dann Wirkung entfalten, wenn Regulierung, Bildung und Umsetzung zusammengedacht werden. Wir sehen, der politische Wille ist da, die Ideen sind richtig und wir haben auch das intellektuelle Potential in Europa. Doch ohne klare Prioritäten und eine tragfähige Roadmap droht die Strategie zu einer Schlagzeile ohne Substanz zu werden. Ich bin gespannt welche konkreten Maßnahmen und Projekte folgen werden und wie sich diese Strategie in der Umsetzung entwickelt. Europa muss nicht nur KI anwenden, sondern sie leben. Und das offen, sicher, verantwortungsvoll und vor allem menschenzentriert.
Schlagwörter: Künstliche Intelligenz, AI First, EU KI Strategie, digitale Transformation, Künstliche Intelligenz Europa, Open Source KI, Zukunft Bauwirtschaft, Human First, Bauwirtschaft
Diesen Beitrag zitieren: Karl, C. [Christian K. Karl]. (2025). AI First – Kommt die neue EU Strategie zu spät? [Blog-Beitrag]. 15.10.2025. BauVolution, ISSN 2942-9145. online verfügbar
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Die „AI First“-Strategie ist ein EU-Programm, das Künstliche Intelligenz (KI) als zentrale Leitlinie für Politik, Forschung und Wirtschaft verankern soll. Ziel ist, KI künftig standardmäßig in Entscheidungsprozesse einzubinden, um Europas Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA und China zu stärken. Finanziert wird sie durch rund eine Milliarde Euro aus bestehenden Förderprogrammen wie Horizon Europe und Digital Europe.
Viele Expertinnen und Experten kritisieren, dass die EU zu spät reagiert hat. Während andere Regionen KI bereits umfassend einsetzen, war Europa mit Regulierung und Ethikfragen beschäftigt. Die „AI First“-Strategie versucht nun, den Rückstand aufzuholen. Jedoch steht sie vor der Herausforderung, dass bestehende EU-Regeln wie der AI Act Innovationen teilweise bremsen könnten.
Die Bauwirtschaft kann stark profitieren: KI kann Prozesse automatisieren, Kostenprognosen verbessern, nachhaltige Materialien analysieren oder mit BIM-Systemen gekoppelt werden. Damit hat sie das Potenzial, Bauprojekte effizienter und ressourcenschonender zu gestalten. Entscheidend ist jedoch, dass Bildung und Weiterbildung mitgedacht werden – nur so kann die Branche den Wandel aktiv gestalten.
Zu den Hauptkritikpunkten zählen die unklare Finanzierung, der Rückgriff auf bestehende Fördermittel, die Komplexität der Regulierung und ein Mangel an konkreten Maßnahmen für kleine und mittlere Unternehmen. Viele Beobachter fordern mehr Transparenz, vereinfachte Zugänge und vor allem Investitionen in Bildung, damit Menschen KI verstehen und sinnvoll einsetzen können.
„Human First“ betont, dass der Mensch im Mittelpunkt der Digitalisierung stehen muss. KI sollte Werkzeuge bereitstellen – aber Entscheidungen, Werte und Verantwortung bleiben menschlich. Nur wenn Bürgerinnen und Bürger, Forschende und Fachkräfte die Technologie verstehen, kann sie ethisch, kreativ und nachhaltig eingesetzt werden.
Dr.-Ing. Christian K. Karl ist Bauingenieur, Fachdidaktiker und Experte für die digitale Transformation in der Bau- und Immobilienwirtschaft. Er leitet die Fachdidaktik Bautechnik an der Universität Duisburg-Essen und forscht zu BIM, Künstlicher Intelligenz, Future Skills und Resilienzbildung in der Bau- und Einsatzpraxis. Zudem ist er Vorsitzender des Richtliniengremius VDI/bS 2552 Blatt 8 zur BIM-Qualifizierung. Neben seiner akademischen Tätigkeit engagiert er sich ehrenamtlich in der DLRG sowie als Berater und Coach für digitale Transformationsprozesse. Auf BauVolution.de verbindet er wissenschaftliche Expertise mit praxisnahen Einblicken. Abseits der Forschung ist er Familienvater, Filmenthusiast, Taucher, Fallschirmspringer und Motorsport-Fan.





